Tales & Textures: Grabinschriften oder: die Geister, die wir riefen
Erster Event von tales & textures, 10.05.2025, Wettsteinhäuschen Basel
Am 10. Mai um 19:30 Uhr im Wettsteinhäuschen am Claragraben 38 gibt‘s Kurzlesungen zu Spuk, Grusel, Horror & Walpurgisnacht! Dazu machen wir was zum Essen für euch und laden herzlich zum Schaffen mit den Händen ein. Bringt eure eigene Handarbeiten – Strickzeug, Skizzenbuch oder Rubik‘s Cube – mit oder widmet euch dem „Tongemüse“, das wir zur Verfügung stellen.
Text anlässlich des Anlasses «WTF is Finger Food?» mit dem Kollektiv eifach gstriggt im safe the yarn Basel, 25.10.2024
What the fuck is finger food?
Eine Box voll Chicken Wrings mit einer, die ich vielleicht lieben könnte spät nachts an der BuchBasel.
Fisch frisch von der Gräte auf dem Landhof von der geheimen Karte im Bo. Die Gräten an der Hose abgestreift, eine hängt mir noch im Mundwinkel.
Äpfel, Topaz natürlich, ich esse sie auf dem Fahrrad, die Kerne spucke ich auf die Strasse, der Apfelsaft läuft mir die Hand hinunter, mein Lenkrad ist klebrig.
Der kleine Pancake im Avant-Gouz mit Zimteis, immer dann, wenn ich mir leidtue.
Frittierte Fischlein, Sardellen oder Sardinen, mir soll beides recht sein. Im Falle von Sardinen schlucke ich die Gräten mit runter.
Riebli mit Aromat. Dicke Scheiben, weichgekocht.
Eine Scheibe Brot, mit nichts als Butter bestrichen.
Alles, was einen Knochen drin oder dran hat.
Und Würstchen, immer, überall.
«Fingerfood, auch ‘Häppchen’ genannt, bezeichnet Speisen, die mit den Fingern statt mit Besteck gegessen werden», schreibt das Deutsche Wikipedia.
Fingerfood, das sind die «Gesamtheit der Speisen, die so zubereitet sind, dass sie [auf Partys oder Empfängen] ohne Besteck [mit den Fingern] zum Mund geführt werden können», steht im Duden, erstmals 2004.
In der Schweiz gibt es ein Reglement für Fingerfood. Natürlich gibt es das. Das Reglement des Bocuse d’Or – ein berühmter Kochwettbewerb, der seit den 1980er Jahren in Lyon ausgetragen wird. Dort steht, dass Fingerfood «in maximal 2 Bissen stehend mit einer Hand gegessen werden» können muss. In diese Kategorie fallen demnach «Antipasti, Appetithäppchen, Canapés, Meze, Sandwichs, Snacks, Tapas, Tortillas sowie Spiesse und Sushi».
Die englische Wikipedia-Seite schreibt: «Finger food is the name for a number of foods that are usually eaten with the hands, as opposed to using utensils, like forks, knives or chopsticks. In some cultures, food is almost always eaten with the hands; for example, Ethiopian cuisine is eaten by rolling various dishes up in injera bread.»
Was Wikipedia nicht schreibt: Finger ablecken ist fast überall verpönt. Aber von Finger Food bekommt man Food Fingers. «Don’t foodfinger me», kannst du auf Englisch sagen, wenn dich jemand mit fettigen Händen berührt.
Im Urban Dictionary bezeichnet Finger Food den slang term für «when someone sticks their finger or fingers into a vagina and then puts said appendages into their mouth. A variation of this is the chocolate finger food, where the vagina is swapped out for an anus.»
Eine Finger Food Fiesta bezeichnet weiter «a gathering of lesbians». Ein genialer Name für eine queere Partyreihe.
Eine Bedeutung von Finger Food begegnet mir im Pflegeheim, wo ich meinen Vater besuche. Auf einer Tabelle im Speisesaal wird angekreuzt, welche Patient*innen in der der Lage sind, was zu essen. Eine Option lautet püriert, eine andere Finger Food. Ich lese in der Broschüre «Essen und Trinken bei Demenz» später nach: «Bei der Pflege von Menschen mit Demenz, Senior*innen und Menschen mit Behinderung wird Fingerfood aus den Bestandteilen des normalen Menüs für jene Patient*innen geformt, die nicht oder nicht mehr mit Messer und Gabel essen können». Das lasse besonders Patient*innen ohne Zeitgefühl mehr Selbständigkeit beim Essen.
Eine romantischere Erzählung von Finger Food beginnt im Frankreich des späten 18. Jahrhundert – auf Samt-Sofas. Herumliegend wäre es unpraktisch gewesen, ein mehrgängiges Menü zu servieren. Also entstand das Canapé. Eine getoastete Scheibe Brot, damit sie schön hart war als Unterlage, mit einem Topping obendrauf. Das Topping sitzt auf der Brotscheibe wie die Menschen auf dem Sofa.
Finger Food ist das Menü heute Abend. Nicht zu flüssig, nicht zu fettig, nicht zu viele Krümel. Knäckebrot nach Doris, Labneh nach Jonas, Radieschen nach Rahel und Parmesan aus St. Louis – geholt von meiner Mutter. Dazu gibt es Lesungen, also Nahrung für unsere Gedanken und Gefühle. Und wir stricken. Das umfasst all das gleichzeitig: Nahrung für den Kopf, das Herz und die Hände. Stricken ist auch Finger Food – irgendwie.
Eine andere Erzählung von Finger Food heisst «hors d’oeuvres». Das bedeutet so viel wie Nebensache und meint ein «kleines, appetitanregendes Gericht zur Eröffnung einer Mahlzeit» (Wikipedia deutsch).
Die Autorin und Köchin Rebecca May Johnson sieht «hors d’oeuvres» als widerständiges Mahl – und belegt das am Film «Mermaids» von 1990. Die dortige Mermaid-Mutter, Mrs. Flax, ist nämlich berühmt für ihre Kochkünste – die ausnahmslos auf einem Kochbuch mit dem Titel «Fun Finger Foods» beruhen. Finger Food ist alles, was die Frau kocht. «Anything more», so die Tochter über Mrs. Flax, «is too big a commitment».
Die Küche ist ein Raum, in dem es schwierig sein kann, anders zu sein. Anders bedeutet in diesem Fall: eine Meerjungfrau. Die Schwachpunkte der Meerjungfrau liegen im Haushalt. Wir erzählen uns viele Geschichten über die Küche und das Kochen. Darüber, wie Dinge gemacht werden und schon immer gemacht wurden. «Stories», so Johnson, «that lie in wait in the folds of curtains, in pots and pans, and in the arrangement of chairs around a table». Die kleinsten Haushaltsgegenstände können uns unter Druck setzen: ein ungedeckter Tisch, eine tickende Uhr, eine offene Besteckschublade. Aber Mrs. Flax lehrt uns, «that you build the kitchen you need to survive, as weird and unnatural as you want it.»
Mrx. Flax weigert sich, ein heteronormatives Bilderbuchleben zu führen. Das zeigt sich in ihrer eigenwilligen Küche. Alles, was sie serviert, ist winzig klein, bunt, in seltsame Formen geschnitten oder zu kleinen Stapeln aufgetürmt. Sie verweigert sich deftigen Familienmahlzeiten. Sie hat keine Lust darauf, sich zu binden – weder an einen Mann noch an ein Hauptgericht.
Als Rebecca May Johnson den Film «Mermaids» zum ersten Mal sah, hatte sie Angst vor dem Ende. Sie befürchtete die ganze Zeit hinweg, dass Mrx. Flax am Schluss kapitulieren und einem Mann Fleisch braten würde. Aber «Mermaids» endet anders. Nämlich so, wie er beginnt: Mrs. Flax serviert ihren Töchtern Hors d’oeuvres. Dieses Ende ist für Johnson «more than pleasing, it is resistance».
Der Widerstand betrifft nicht nur was, sondern auch die Art und Weise, wie die Familie isst. Die eine Tochter sitzt dazu in der Badewanne, die andere steht, die dritte thront auf einem hohen Hocker. Sie verteilen sich in der Wohnung wie Platten mit Hors d’oeuvres an einem Apéro. Sie nehmen selbstverständlich Raum ein. Im Film ist einmal ein Mann zu Besuch, der sich allein an den Kopf des Esstischs setzt und sehnlichst hofft, dass die Frauen um ihn herum Platz nehmen. Vergeblich. Er wird wütend und erklärt den Frauen den Unterschied zwischen zivilisiertem und unzivilisiertem Essen.
Unzivilisiertes Finger Food ist gefährlich. Und beweglich. Es lässt sich herumtragen. So befreit es die Essenden vom Esstisch. «Finger foods facilitate flight!», stellt Johnson fest. Es besteht nicht auf dem linearen Ablauf einer Mahlzeit, sprengt die Chronologie der Familienzeit – weil kein Mahl mehr vom anderen zu unterscheiden ist. Ob Hauptgericht oder Häppchen, Znüni oder Zvieri, Dessert oder Vorspeise. Der Unterschied wird nichtig, weil du in einem Moment eins oder alle zusammen in der Hand halten kannst. Anders zu essen kann dabei helfen, ein anderes Leben zu führen. Der Teller mit Finger Foods ist anti-hierarchisch, herumtragbar und bereit, verteilt zu werden.
Ihr habe Mrs. Flax eine wichtige Lektion gelernt: Nachdem Johnson eine Art indoktrinierte Pflicht empfunden hatte, den Appetit all ihrer Mitmenschen vorauszusehen und danach zu leben und zu kochen, verweigerte sie sich. «I began to let go, to not cook. I began to refuse the kitchen and its narratives that I had so fully embodied. The practice of refusal made space for other objects, like pencils and laptops, and other activities, like writing and the cultivation of voice».
Nicht alle können sich der Küche verweigern. Wer Kinder hat, muss Essen zubereiten. Darin liegt meine grösste Angst in Bezug auf ein Leben mit Kindern. Dass ich es nicht schaffe, regelmässig zu kochen. Ich schaffe es nicht mal, für mich selbst zu kochen. Oft esse ich «keine richtige Mahlzeit», sondern das, was gerade da ist. Oft ist das, was gerade da ist, sehr einseitig. Sehr viel von sehr wenig. Ich esse dann einen riesigen Salat, mehr als ein paar Äpfel, nur geschmorten Kürbis oder Kartoffeln mit Butter. Oft frage ich mich, was ich überhaupt esse. Ich esse viel unterwegs, im Stehen, im Gehen, auf dem Fahrrad, zwischendurch. Oft mit den Fingern.
Mich plagt in solchen Momenten ein diffuses Gefühl des Scheiterns. Den Anforderungen eines Erwachsenenlebens nicht gerecht zu werden. Wenn ich von Zeit zu Zeit eine ‚richtige Mahlzeit‘ koche, bin ich unverhältnismässig stolz auf mich. Simone Lappert schreibt in einem ihrer Gedichte: «Erwachsen bist du, wenn schon lange niemand mehr ein brot für dich gestrichen hat.»
Mich lehren Finger Food und seine unzähligen Geschichten: Ich sollte – wir sollten dringend aufhören zu definieren, was eine ‚richtige Mahlzeit‘ ist und aufhören zu definieren, wie man eine ‚richtige Mahlzeit‘ isst. Alles ist Finger Food und nichts daran ist eine Nebensache.
Ich streiche mir selbst ein Brot und denke: Vielleicht bin ich gar nicht unfähig in der Küche. Vielleicht bin ich eine Meerjungfrau.
WeitereQuellen:
Rebecca May Johnson: „Against Roast Chicken, an Hors D’Oeuvres Theory of Cooking“ in the anthology „In the Kitchen: Essays on Food and Life“, Daunt Books 2020.
Text anlässlich des Sommerfests des Archivs der vollen Bäuche, 27.06.2024
«Ein Leben ohne Butter ist ein Irrtum» – Johanna Adorjan
Der erste Sommerabend auf dem Balkon, D ist wieder saisonale Raucherin, ich rupfe derweil allerlei Essbares von ihren Balkonstauden ab und stopfe es mir in den Mund. Ich bin dankbar dafür, dass D mich niemals dafür scheltet. Nicht einmal dann, als ich zu den Cherrytomaten übergehe. Wir swipen stattdessen auf OKCupid. Wir schweifen ab: Sie fragt mich, ob ich eigentlich einen Typ habe. Ich überlege kauend. Nein, sage ich dann. Mir fällt beim besten Willen keine Regelmässigkeit auf, wenn ich die Menschen betrachte, die ich lieb(t)e und begehr(t)e.
Eine Woche später, der Sommer ist wieder weg, suche ich ihn kulinarisch zu ersetzen. Ich denke über den heutigen Archiv-Anlass nach: Sommeressen, Sommerfeste, Sommererinnerungen. Ich wühle mich durch die Bücherberge in meinem sogenannten Wohnzimmer und stosse dabei auf C Pam Zhang «Wo Milch und Honig fliessen». Darin: Ein Soufflé Cheesecake, der den Sommerbeginn markiert in seiner Vergänglichkeit. Das passt, denke ich um den Sommer bangend, während ich lese:
«Und so ging uns die Milch aus. Aber vorher kosteten wir noch das Glück von Sahne und Cremes, quellende, samtige Saucen, einen Sommer des Genusses, der mit einem Soufflé Cheesecake begann. Man braucht nur sehr wenig Zutaten. Das Geheimnis des Kuchens ist weder Butter noch Sahne, sondern seine Vergänglichkeit. Wenn er aus dem Ofen kommt, ist er perfekt, aber schon im nächsten Moment kühlt er aus, sackt zusammen, kollabiert unter dem Gewicht der Zeit. Ein Geschmack, den kein Gast und keine Kritiker*in kostet, der ausschliesslich im Nachhall der Erinnerung auf ein oder zwei Zungen existiert. Trotz allem, was danach geschah, nehme ich diesen Sommer, weich wie warmen Teig, in meine Hände und sage: So ist es gewesen, und dies sind die Menschen, die wir waren.»
Es ist die Vergänglichkeit bei C. Pam Zhong, die mich auf die Butter bringt. Dinge, die bei Raumtemperatur schmelzen, machen mich nervös. Und ich liebe sie. Ich liebe Eis, ich liebe Butter. [Habe ich etwas vergessen, denke ich, während ich «Dinge, die schmelzen» google] Vor allem im Sommer. Ich esse gerne schnell und es kommt mir entgegen, eine Legitimation dafür zu haben. Je heisser es ist, desto schneller muss ich schlingen. Wenn ich auf Sommernachtspaziergängen mit N oder J oder D kurz vor Ladenschluss um 22 Uhr noch Eis hole und meines innert Minuten weg ist, darf ich das der anderen manchmal auch noch zu Ende schlecken. Ich nehme oft die grosse Portion, wenn andere die kleine nehmen, aber es nützt nur bedingt.
Bei der Butter verhält es sich ein wenig anders: Zu kalt ist sie nicht streichbar, dafür bleiben die Zahnabdrücke so schön haften [in Japan gibt es ein eigenes Wort dafür]. Ich schneide sie dünn in Scheibchen und lege sie behutsam aufs Brot. Warme Unterlagen steigern meine innere Unruhe: Eine heisse Kartoffel zum Beispiel – es ist nur ein ganz kurzer Moment, in dem die Butter weich genug, aber noch nicht komplett flüssig und strukturlos ist. Teil meiner Butterliebe gilt ihrer Konsistenz und flüssig erscheint sie mir mit Abstand am langweiligsten. Auch ist es der Kontrast von kalter, harter Butter auf etwas weichem, warmen, was ich leidenschaftlich liebe. Ein kaltes Stück Butter auf warmen Hörnli zum Beispiel, garniert mit Aromat. Jeder Biss bedingt ein neues Stückchen Butter, das ich vorsichtig auf die Gabel lege. Das ist mein GegendieSorgenessen. Das koche ich für mich selbst. Dann, wenn ich alleine und ratlos bin.
Es fällt mir schwer, für mich selbst zu kochen. Auch Rebecca May Johnson schreibt:
«Eins der herausforderndsten Dinge, ist für mich selbst zu kochen, denn es bedeutet, meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen und sie zu erfüllen.» Genuss ist etwas, das ich mit anderen Menschen verbinde, vielleicht sogar von anderen Menschen gelernt habe: «Kulinarisches Wissen ist ein Ausstrecken nach dem Anderen, ein Anerkennen dessen, dass unsere Beziehung zu dem, was jenseits von uns selbst liegt, das ist, was uns nährt.»
«Alleine», muss ich wieder an Johnson denken, «habe ich keinen Namen, keinen Appetit, keinen Körper». Und so ist auch meine Butterliebe etwas, das erst im Ausstrecken nach dem Anderen erwuchs. Ich merke plötzlich: Vielleicht hab ich doch einen Typ. All meine Lieben lieben Butter. So ist es gewesen, denke ich, und dies sind die Menschen, die wir waren. Wir waren, wir sind Menschen, die Butter lieben.
Salzige, mit Schnittlauch oder anderen Kräutern, in Rollen, als Rügeli, in Flockenform, geschlagene Butter, flüssig als Nussbutter oder mit Misopaste vermischt.
Einer hatte die Phantasie, ein Holzstängeli in einen Leib Butter zu stecken, sie einzufrieren und dann als Buttereis zu verspeisen.
In einen anderen verliebte ich mich ob der Art und Weise, wie er die Butterbrote strich. So lange, so geduldig, mit einer solchen Hingabe, dass ich fast wahnsinnig wurde. Aber am Ende hatte die Butter die ideale Konsistenz – veredelt mit Honig zu einer sämigen, wundersam gleichmässigen Paste verstrichen. Wichtig: Die Streicherei beginnt erst auf dem Brot, nicht etwa davor.
Eine hatte ein Faible für Salzbutter aus Dänemark. Diese war schwer zu kriegen hier, wenn nicht sogar unmöglich. Konnte sie aber jemanden dazu bringen, ihr die ersehnte Butter aus Dänemark zu besorgen, strich sie diese nicht etwa auf ein Brot, sondern auf Maiswaffeln. Ohne Belag, ohne Begleitung. Es war wohl gerade der karge Untergrund, der die edle dänische Butter maximal zur Geltung brachte.
Einer hatte ein kompliziertes Morgenritual, das nach zwei Balkonen verlangte, von denen einer im Schatten und einer in der Sonne sein musste. Zuallererst holte er nämlich jeden Morgen die Butter aus dem Kühlschrank und stellte sie auf den Sonnenbalkon. Nach einer gewissen Zeitspanne holte er sie – nunmehr perfekt temperiert – auf die Schattenseite, wo er in der Zwischenzeit seinen Joint geraucht hatte.
Einer kochte zum ersten Mal für mich – unerwartet, nachdem er selbst gerade eben schon gekocht und gegessen hatte – Chicorée an einer Buttersauce. Dazu reichte er mir Brot mit noch mehr Butter: diese verziert mit Bärlauchknospen. Danach küssten wir uns fast im Türrahmen. Heute legt er für mich regelmässig Sardellen in heisse Butter, bis diese sich gänzlich auflösen.
Ich lieb(t)e also diese Menschen und verschenkte Butterglocken und Buttermesser, eine Butterweihnachtskugel, Butterkäppis und natürlich Butter selbst. Alpenbutter, Salzbutter, Butter aus der Molki in Zweisimmen und Butter mit Blumen drin. Ich wurde beschenkt von diesen Menschen: mit einem Namen, einem Appetit und einem Körper.
Genuss ist etwas, das ich von Anderen gelernt habe. Und doch: «Kochen macht auch die Grenzen der Empathie deutlich», schreibt Johnson weiter. Ich kann mir deinen Appetit zwar ansehen, aber ihn mir nicht als meinen eigenen vorstellen und: Ich kann nicht für dich essen. Aber: Wir können es gemeinsam tun, wir können ihn zusammen erleben und zusammen erinnern, den Sommer des Genusses: die Cherrytomaten auf dem Balkon, das Eis, die Butter und deren Vergänglichkeit.
Mit einem Wiegenlied zu einer Abtreibung sorgt Tove Ditlevsen in den 1970er-Jahren für einen Tabubruch. Ihre Erzählung ist nicht nur mutig, sondern poetisch, witzig und hochaktuell. Eine Liebeserklärung an eine radikale Autorin.
Charlottenlund, Kopenhagen: Eine junge Frau sitzt in der Tram – auf dem Weg zu einer Abtreibung. Nur: Es sind die 1950er-Jahre. Der Schwangerschaftsabbruch ist in Dänemark verboten.
Auch darüber zu schreiben, erfordert grossen Mut. Denn das Verbot gilt zum Zeitpunkt der Publikation von Tove Ditlevsens Versen noch immer. Die dänische Autorin tut es trotzdem. Und zwar nicht literarisch verfremdet, sondern aus der Ich-Perspektive, in ihrer Autobiografie.
18 ganz unterschiedliche Menschen schreiben gemeinsam einen Text über weibliche und queere Lust. Kann man das lesen?
Sex in der Literatur ist ein leidiges Thema. Oft ist er hölzern und fantasielos oder abstossend und gewaltvoll. Der männlich geprägte Literaturkanon ist voller schlechter Sexszenen. Auch dagegen schreibt der im Frühjahr erschienene Kollektivroman «Wir kommen» an.
Schreiben gegen die Scham
Habe ich schon mal «Ich will dich vögeln» zu jemandem gesagt und es nicht ironisch gemeint? Solche Fragen wirft die Lektüre von «Wir kommen» auf. Die Scham ist dabei Programm. Sie lauert stets im Hintergrund – sowohl beim Lesen als auch im Text. Scham ist ein mächtiges Gefühl. Denn sie bringt zum Schweigen und vereinzelt. Beides möchte «Wir kommen» ändern.
«Es kann jeden treffen», der Satz steht in riesigen Lettern weiss auf pink auf dem 17er-Tram in Basel. Er stammt von der Stiftung The DEAR Foundation, die eine Brustkrebs-App entwickelt hat. Ich habe eine gewisse Abneigung gegenüber dem generischen Maskulinum; nur in diesem einen Fall fände ich es schön, nicht mitgemeint zu sein. Das Risiko, als Frau an Brustkrebs zu erkranken, lässt sich beeinflussen, lese ich auf der Webseite der Krebsliga. Manche Risikofaktoren sind gegeben, andere «eng mit dem persönlichen Lebensstil verbunden», Letztere lassen sich «vermeiden oder zumindest reduzieren». Risikofaktoren sind: das Alter, der Einfluss von Hormonen, Strahlentherapie, Übergewicht, Alkohol und Rauchen. Und erbliche Anlagen. Wofür kann ich wie viel?
Es gibt nicht viele Orte in Basel, an denen ich nackt sein darf. Einer ist am Rhein, an meinem geheimen Strändli am Kleinbasler Rheinufer zwischen Tinguely-Museum und Wettsteinbrücke. Ein frei zugängliches Fischerhäuschen. Den Strandabschnitt nennt man FKK-Ufer. Meist fühle ich mich wohl an meinem geheimen Strändli, auch wenn ausser mir fast nur nackte Männer dort sind. Einer liest Zeitung und informiert ungefragt über das Wetter, ein anderer macht Yoga.
Das Sunnebeedli auf dem Margarethenhügel ist ein zweiter Ort, wo Nacktsein erlaubt ist. Allerdings nur in geschlechtergetrennten Bereichen und nur zum Sonnen – nackt schwimmen ist verboten. Ausserdem herrschen ein Fussballverbot und ein Lärmverbot,. Im Fraueli, dem Frauenbereich des Eglisee-Bads, ist Oben-ohne-sein ausdrücklich erlaubt. Ganz blutt ist aber untersagt, genauso Kinder unter 16 Jahren (Säuglinge ausgenommen). Sind diese Orte, die etwas allgemein Verbotenes erlauben, wiederum besonders anfällig, das Alltägliche zu verbieten?
heute vor 34 jahren haben meine eltern in berlin geheiratet. mein vater erinnert sich nicht.
ich stehe in der dusche und bücke mich ungelenk zwischen meine beine, um mir die schamhaare zu kürzen. ich wollte sie doch nicht mehr schamhaare nennen, erinnere ich mich. ich erinnere mich.
im feministischen selbsthilfe-ratgeber hexengeflüster von 1975 steht: «wir haben unseren äußeren geschlechtsorganen neue namen gegeben. uns fiel auf, daß das wort scham ein ausdruck dafür ist, dass weibliche sexualität tabuisiert wird.» ich lese weiter, bis: «deshalb haben wir das ‘scham’ durch ‘venus’ ersetzt.» warum? denke ich. es hat doch so gut angefangen.
meine venushaare zu rasieren ist keine option, war noch nie eine option. davon bekomme ich kleine rote punkte und schmerzen. ich mag es von zeit zu zeit trotzdem gerne, wenn die haare an den lippen weg sind. [wieso eigentlich lippen, denke ich, können wir nicht lappen sagen? die vulva ist doch kein mund]. deswegen lasse ich die haare jeweils erst wachsen, dann waxen. zu lange haare verheddern sich, darum kürze ich sie zuerst. während ich mich frage, ob es sich lohnen würde, geld für einen trimmer auszugeben, schneide ich mir in die innere schamlippe. wobei ich nicht sicher bin, ob es wirklich die innere schamlippe ist. ich fühle mich wie eine sehr schlechte, sehr ungebildete feministin.
«von liebe, lust & lecktüchern» heisst das podium, das ich moderiere. «ich war 30 jahre lang mit vulven zusammen», sagt E auf dem podium. «also menschen mit vulven», korrigiert sie sich. «es geht nichts über eine gute vaginalflora», ruft F, die junge gynäkologin. ich denke an meine vaginalflora und an den zwischenfall mit der schere und zwangsläufig auch an feuchtgebiete. ich frage mich, was es braucht, damit ein erlebnis einschneidend ist und dass ich das womöglich gerade nur gedacht habe, um diesen schlechten wortwitz zu machen. in meiner alten wg, erinnere ich mich, müsste ich jetzt einen franken in ein kässeli tun. woran erinnere ich mich nicht?
ich nehme das hexengeflüster hervor und blättere zu den inneren und äusseren geschlechtsorganen. ich bin mir immer noch nicht sicher, wo rein ich mich gerade geschnitten habe, während das blut auf den boden tropft. irgendwas war doch mit gut durchblutetem schwellkörpergewebe, denke ich. heisst das nicht, dass es schnell verheilt? es schmerzt und pocht. ich überlege, ob ich den waxing-termin absagen soll.
die waxingfrau ist noch in der ausbildung, deshalb bekomme ich 10%. ich will lieber den vollen preis bezahlen, dafür, dass es schneller geht. Aber ich traue mich nicht, etwas zu sagen. sie erzählt mir, dass sie gerade neu gelernt hat, bauch und rücken zu waxen. das macht mir keinen mut. bikini sei einfach. ich glaube ihr nicht, lächle aber verkrampft. «jedenfalls», klärt sie mich auf, «kämen kaum männliche kunden, um ihre bäuche zu waxen», während sie den wachsstreifen mit einem ruck von der innenseite meiner äusseren schamlippen reisst. es schmerze die männer zu sehr. als meine bikinizone bis auf den landingstrip fertig ist, sagt sie: «jetzt auf den bauch legen und die po-backen mit den händen spreizen».
erinnern ist politisch. vergessen auch. erinnerung übt einen besonderen sog aus auf mich. ich bin, seit mein vater vergisst, wie besessen von ihr. ich frage meine mutter aus, obwohl sie immer dasselbe erzählt. in marseille in der tapas-bar kritzle ich nach dem dritten rosé wie wild familienstammbäume auf servietten. was, wenn meine mutter auch vergisst? nicht mehr da ist? wer weiss dann noch, was vor mir war? wie meine beiden grossmütter mütterlicherseits hiessen und was sie gearbeitet haben und weshalb die eine speck unter der matratze versteckt hielt und die andere ein kind geschenkt bekam?
«erinnerung ist eine bombe», schreibt Deborah Levy. hat sie recht? und wenn ja, bin ich ein feuerteufel? will ich den [meinen] untergang?
erinnern kann auch eine pflicht sein. sie wird für gewöhnlich den frauen auferlegt. dass meine mutter aus prinzip keine fotoalben anfertigt und stattdessen alle losen fotografien unserer kindheit in einem silberkoffer im keller verstaut, bestätigt als ausnahme bloss die regel. das familiengedächtnis gehört trotzdem ihr. «um diese uhrzeit vor X jahren dachte ich, ich hätte zu viel kuchen gegessen, obwohl du bereits auf dem weg warst», beginnt sie jedes jahr zu meinem geburtstag dasselbe narrativ zu spinnen. kurz: komplizierte geburt, fast kein herzton mehr, saugglocke.
«ich habe vergessen, wann meine mutter geburtstag hat», schreibt mir J. «weisst du es noch?» geburtstage, jahres- und todestage, wichtige termine und das check-in danach. erinnern ist auch sorgearbeit.
M erzählt mir von seiner cranio-sakraltherapeutin. sie behauptet, dass die eigene geburtsgeschichte für 95% des charakters verantwortlich sei. ich will mehr sein als eine saugglockenintervention.
hin und wieder rufe ich das versammelte glück der welt an, indem ich meine ahninnen aufbiete. sie nehmen mich bei der hand: der schlangenring von lea, der verlobungsring von dora, der ehering meiner mutter. «ich brauch ihn nicht mehr», sagt meine mutter am tag nach der scheidung und gibt ihn mir. so sind es drei ringe an meiner linken hand – für besondere begebenheiten.
die geschichte meines vaters verliert sich ziemlich schnell. genauer: bei meiner dritten grossmutter. es scheint, als hätte diese familie die auslöschung der geschichte selbst dann schon dem erinnern vorgezogen, als letzteres noch möglich war. mein onkel ist seit dreissig jahren verschollen, mein grossvater litt an alzheimer, genau wie mein vater.
tätigkeiten werden in unserer gesellschaft aufgewertet, sobald sie ein mann ausübt: wenn doch mal ein mann sich erinnert, gerne etwa für ein theaterstück an seine grossmutter, wird er dafür übermässig gefeiert, sagt F.
das hexengeflüster ist heute vergriffen. wie beinahe alle bücher, die aus der frauengesundheitsbewegung heraus entstanden sind. diese amnesie hat schon Virginia Woolf beschrieben: «nichts bleibt von alledem. alles ist verschwunden.» und doch: die allerersten archive der welt waren die erinnerungen von frauen, «geduldig überliefert von mund zu ohr, körper zu körper, hand zu hand», schreibt Nguyễn Trinh Thi.
«ich erinner’ mich, wir waren beide verdammt cool. doch innerlich…», sangen fanta vier, als ich vier jahre alt und alles andere als cool war. kann ich mich auch verinnern?
woran ich mich nicht erinnern möchte, daran erinnert sich mein körper: an eine nacht, sie ist schwer. er fühlt sich schwer an, mein körper. wie ein beutel, sagt Sara Ahmed. nur dass der beutel dein körper ist. ich weiss weder das jahr noch die jahreszeit, düster und neblig ist es in dem dorf meiner erinnerung immer. als ich Z damals von dieser nacht erzählte, sagte sie «das war eine vergewaltigung». Ich lachte und widersprach. ich habe nie wieder von dieser nacht gesprochen.
«schnurwolle», «chi wau wau», «zerrüttelte familie». ich erinnere mich an manche wörter falsch. Ich verinnere mich. ich habe sie falsch verinnerlicht.
fragmentarisches schreiben, zerrütte(l)tes schreiben, schreiben in listen, [mein schreiben] passt besser zur lebensrealität vieler weiblich sozialisierter personen als ein geradliniger, bürgerlicher roman oder eine fortschrittserzählung. das assoziative, fliessende, aus- und umschweifende, abbrechende, sich selbst unterbrechende schreiben mit absätzen und pausen und lücken dazwischen passt zu mir und meinem körper und den zeiten, die ich für das schreiben habe. die textformen müssen den körpern angepasst werden, forderte Woolf. mein schreiben ist nie welthaltig, immer eine nebensache. hatte ich die allerlängste zeit gar keinen schreibtisch, ist er heute so wackelig, dass ich spätestens daran verzage. ich will schreiben. ich will sagen: ich schreibe. ich schreibe [ein bisschen]. ich schreibe vielleicht. ich schreibe? schreibe ich?
was ist das perfekte archiv? und wie erinnern wir das, was nicht archivierbar ist? wohin mit erfahrungswissen, körperwissen, erinnerung? wohin damit, wenn worte fehlen?
Judith Schalansky schreibt, «dass der unterschied zwischen an- und abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die erinnerung gibt.» ich lese den satz immer und immer wieder, ohne ihn zu verstehen.
wir brauchen ein komplexeres verständnis von sexualisierter gewalt, fordert Linda Martin Alcoff. eines, das die geschichte dieses phänomens erinnert. daran, dass vergewaltigung zuallererst ein vergehen gegen das eigentumsrecht des Mannes war. wir brauchen ein verständnis, das über konsens hinausgeht. denn konsens verlangt, dass ich immer genau weiss, was ich will und das [laut] formulieren kann. was, wenn ich es [noch] nicht weiss? nicht genau weiss? keine worte finde? «ich denk du weisst schon was ich will», besangen tic tac toe mein sexuelles erwachen. «du bisch die schönst minderjährig vo dr ganze stadt», rappten sektion kuchikäschtli.
ich will eine tradition, auf die ich zurückblicken kann. und zwar keine «so kurze und einseitige, dass sie kaum hilfreich ist», wie Virginia Woolf schreibt. ich will meinen eigenen namen. ich will die geschichte der frauen in meiner familie zurückverfolgen können, ich will nicht das ende einer linie von vätern sein.
«das vergangene, einmal gewesene ist nicht nur für immer in unsere historie eingeschrieben», sagt Pierre Bourdieu, sondern ebenso «in das gesellschaftliche sein, in die dinge und auch die körper». wenn ich sage, dass mein körper sich erinnert, was meine ich dann? ich bin doch mein körper. zuallererst.
mein handy erinnert sich für mich: an den familienbestand unserer Chrisibäume in nenzlingen: «baselbieter hochstamm», steht in der notiz vom 16. april, «3 alte, 3 junge, davon eine herzkirsche. Ende juni erntezeit.»
was bleibt, wenn etwas verschwindet? habe ich mich gefragt und meine masterarbeit geschrieben, während mein vater vergass und J’s vater starb. meine arbeit bleibt, die väter sind verschwunden oder im begriff darin. «für meine grossmütter Lea & Dora», lautet meine widmung. wenn ich schreibe, dann nur aus liebe.
ist es die hoffnung, «eine vorstellung vom möglichen, von veränderung, von widerstand zu gewinnen», wie Frigga Haug es formuliert, die mich von der erinnerung besessen macht? oder ist es bloss die [meine] angst, zu verschwinden? wie es mein vater tut und sein vater tat?
mein bruder und ich nennen meinen vater «daddy». nicht etwa, weil wir englischsprachig wären, sondern weil wir als kinder einen synchronisierten film gesehen haben und danach dachten, «daddy» stünde für «teddy». den bären. mir fällt auf, dass mein bruder meinen vater seit neustem nicht mehr «daddy», sondern wolfgang nennt. «warum?», frage ich ihn. «er ist nicht länger mein vater».
archive sind auch orte des mangels. alles, was wir erinnern, ist eine auswahl. die entscheidung, «was ins archiv aufgenommen und was ausgelassen wird, ist ein politischer akt», schreibt Carmen Maria Machado. was ist der erinnerung würdig?
ich bin jetzt der rechtliche beistand meines vaters, verkündet die kinder- und erwachsenenschutzbehörde. worin stehe ich ihm bei? Worin sollte ich ihm beistehen? Mein bruder ist viel beistandhafter als ich. «was ist das denn?», fragt mein vater entsetzt, als ich ihm blumen bringe.
meine innere lippe [oder lappe?] ist unterdessen verheilt. die scham ist noch da. «keine scham», steht auf dem demoschild aus den 70ern, «nur haare».
wenn ich etwas gelernt habe, erinnere ich mich selbst, dann ist es, mir zu vertrauen. meiner erinnerung, meinem schreiben, meinem bauch. um dann wieder weiter zu [ver]zweifeln. verinnern oder vergessen – zwei dinge bleiben: widersprüche und worte [wie ziegelsteine]. daraus bau ich mir mein archiv.
heute vor 34 jahren haben meine eltern in berlin geheiratet. mein vater erinnert sich nicht. nicht daran, dass er auf dem standesamt in charlottenburg eine schwarze leinenhose trug, die er selbst genäht hatte. auch nicht an das feuerwerk danach auf dem teufelsberg. «gegen die bösen geister», sagt meine mutter, «es hat eine zeit lang geholfen». sie erinnert sich für mich. ich lege das bild in meinen imaginären silberkoffer. dabei denke ich an Sara Ahmed, die [feministische] wissensbestände als «zerbrechliches archiv» beschreibt, als «ein archiv, dessen zerbrechlichkeit uns eine verantwortung überträgt: uns darum zu kümmern.» gut, sage ich. genau das werde ich tun. ich kümmere mich darum, indem [ich schreibe].