
Datum: 23.04.2024
- heute vor 34 jahren haben meine eltern in berlin geheiratet. mein vater erinnert sich nicht.
- ich stehe in der dusche und bücke mich ungelenk zwischen meine beine, um mir die schamhaare zu kürzen. ich wollte sie doch nicht mehr schamhaare nennen, erinnere ich mich. ich erinnere mich.
- im feministischen selbsthilfe-ratgeber hexengeflüster von 1975 steht: «wir haben unseren äußeren geschlechtsorganen neue namen gegeben. uns fiel auf, daß das wort scham ein ausdruck dafür ist, dass weibliche sexualität tabuisiert wird.» ich lese weiter, bis: «deshalb haben wir das ‘scham’ durch ‘venus’ ersetzt.» warum? denke ich. es hat doch so gut angefangen.
- meine venushaare zu rasieren ist keine option, war noch nie eine option. davon bekomme ich kleine rote punkte und schmerzen. ich mag es von zeit zu zeit trotzdem gerne, wenn die haare an den lippen weg sind. [wieso eigentlich lippen, denke ich, können wir nicht lappen sagen? die vulva ist doch kein mund]. deswegen lasse ich die haare jeweils erst wachsen, dann waxen. zu lange haare verheddern sich, darum kürze ich sie zuerst. während ich mich frage, ob es sich lohnen würde, geld für einen trimmer auszugeben, schneide ich mir in die innere schamlippe. wobei ich nicht sicher bin, ob es wirklich die innere schamlippe ist. ich fühle mich wie eine sehr schlechte, sehr ungebildete feministin.
- «von liebe, lust & lecktüchern» heisst das podium, das ich moderiere. «ich war 30 jahre lang mit vulven zusammen», sagt E auf dem podium. «also menschen mit vulven», korrigiert sie sich. «es geht nichts über eine gute vaginalflora», ruft F, die junge gynäkologin. ich denke an meine vaginalflora und an den zwischenfall mit der schere und zwangsläufig auch an feuchtgebiete. ich frage mich, was es braucht, damit ein erlebnis einschneidend ist und dass ich das womöglich gerade nur gedacht habe, um diesen schlechten wortwitz zu machen. in meiner alten wg, erinnere ich mich, müsste ich jetzt einen franken in ein kässeli tun. woran erinnere ich mich nicht?
- ich nehme das hexengeflüster hervor und blättere zu den inneren und äusseren geschlechtsorganen. ich bin mir immer noch nicht sicher, wo rein ich mich gerade geschnitten habe, während das blut auf den boden tropft. irgendwas war doch mit gut durchblutetem schwellkörpergewebe, denke ich. heisst das nicht, dass es schnell verheilt? es schmerzt und pocht. ich überlege, ob ich den waxing-termin absagen soll.
- die waxingfrau ist noch in der ausbildung, deshalb bekomme ich 10%. ich will lieber den vollen preis bezahlen, dafür, dass es schneller geht. Aber ich traue mich nicht, etwas zu sagen. sie erzählt mir, dass sie gerade neu gelernt hat, bauch und rücken zu waxen. das macht mir keinen mut. bikini sei einfach. ich glaube ihr nicht, lächle aber verkrampft. «jedenfalls», klärt sie mich auf, «kämen kaum männliche kunden, um ihre bäuche zu waxen», während sie den wachsstreifen mit einem ruck von der innenseite meiner äusseren schamlippen reisst. es schmerze die männer zu sehr. als meine bikinizone bis auf den landingstrip fertig ist, sagt sie: «jetzt auf den bauch legen und die po-backen mit den händen spreizen».
- erinnern ist politisch. vergessen auch. erinnerung übt einen besonderen sog aus auf mich. ich bin, seit mein vater vergisst, wie besessen von ihr. ich frage meine mutter aus, obwohl sie immer dasselbe erzählt. in marseille in der tapas-bar kritzle ich nach dem dritten rosé wie wild familienstammbäume auf servietten. was, wenn meine mutter auch vergisst? nicht mehr da ist? wer weiss dann noch, was vor mir war? wie meine beiden grossmütter mütterlicherseits hiessen und was sie gearbeitet haben und weshalb die eine speck unter der matratze versteckt hielt und die andere ein kind geschenkt bekam?
- «erinnerung ist eine bombe», schreibt Deborah Levy. hat sie recht? und wenn ja, bin ich ein feuerteufel? will ich den [meinen] untergang?
- erinnern kann auch eine pflicht sein. sie wird für gewöhnlich den frauen auferlegt. dass meine mutter aus prinzip keine fotoalben anfertigt und stattdessen alle losen fotografien unserer kindheit in einem silberkoffer im keller verstaut, bestätigt als ausnahme bloss die regel. das familiengedächtnis gehört trotzdem ihr. «um diese uhrzeit vor X jahren dachte ich, ich hätte zu viel kuchen gegessen, obwohl du bereits auf dem weg warst», beginnt sie jedes jahr zu meinem geburtstag dasselbe narrativ zu spinnen. kurz: komplizierte geburt, fast kein herzton mehr, saugglocke.
- «ich habe vergessen, wann meine mutter geburtstag hat», schreibt mir J. «weisst du es noch?» geburtstage, jahres- und todestage, wichtige termine und das check-in danach. erinnern ist auch sorgearbeit.
- M erzählt mir von seiner cranio-sakraltherapeutin. sie behauptet, dass die eigene geburtsgeschichte für 95% des charakters verantwortlich sei. ich will mehr sein als eine saugglockenintervention.
- hin und wieder rufe ich das versammelte glück der welt an, indem ich meine ahninnen aufbiete. sie nehmen mich bei der hand: der schlangenring von lea, der verlobungsring von dora, der ehering meiner mutter. «ich brauch ihn nicht mehr», sagt meine mutter am tag nach der scheidung und gibt ihn mir. so sind es drei ringe an meiner linken hand – für besondere begebenheiten.
- die geschichte meines vaters verliert sich ziemlich schnell. genauer: bei meiner dritten grossmutter. es scheint, als hätte diese familie die auslöschung der geschichte selbst dann schon dem erinnern vorgezogen, als letzteres noch möglich war. mein onkel ist seit dreissig jahren verschollen, mein grossvater litt an alzheimer, genau wie mein vater.
- tätigkeiten werden in unserer gesellschaft aufgewertet, sobald sie ein mann ausübt: wenn doch mal ein mann sich erinnert, gerne etwa für ein theaterstück an seine grossmutter, wird er dafür übermässig gefeiert, sagt F.
- das hexengeflüster ist heute vergriffen. wie beinahe alle bücher, die aus der frauengesundheitsbewegung heraus entstanden sind. diese amnesie hat schon Virginia Woolf beschrieben: «nichts bleibt von alledem. alles ist verschwunden.» und doch: die allerersten archive der welt waren die erinnerungen von frauen, «geduldig überliefert von mund zu ohr, körper zu körper, hand zu hand», schreibt Nguyễn Trinh Thi.
- «ich erinner’ mich, wir waren beide verdammt cool. doch innerlich…», sangen fanta vier, als ich vier jahre alt und alles andere als cool war. kann ich mich auch verinnern?
- woran ich mich nicht erinnern möchte, daran erinnert sich mein körper: an eine nacht, sie ist schwer. er fühlt sich schwer an, mein körper. wie ein beutel, sagt Sara Ahmed. nur dass der beutel dein körper ist. ich weiss weder das jahr noch die jahreszeit, düster und neblig ist es in dem dorf meiner erinnerung immer. als ich Z damals von dieser nacht erzählte, sagte sie «das war eine vergewaltigung». Ich lachte und widersprach. ich habe nie wieder von dieser nacht gesprochen.
- «schnurwolle», «chi wau wau», «zerrüttelte familie». ich erinnere mich an manche wörter falsch. Ich verinnere mich. ich habe sie falsch verinnerlicht.
- fragmentarisches schreiben, zerrütte(l)tes schreiben, schreiben in listen, [mein schreiben] passt besser zur lebensrealität vieler weiblich sozialisierter personen als ein geradliniger, bürgerlicher roman oder eine fortschrittserzählung. das assoziative, fliessende, aus- und umschweifende, abbrechende, sich selbst unterbrechende schreiben mit absätzen und pausen und lücken dazwischen passt zu mir und meinem körper und den zeiten, die ich für das schreiben habe. die textformen müssen den körpern angepasst werden, forderte Woolf. mein schreiben ist nie welthaltig, immer eine nebensache. hatte ich die allerlängste zeit gar keinen schreibtisch, ist er heute so wackelig, dass ich spätestens daran verzage. ich will schreiben. ich will sagen: ich schreibe. ich schreibe [ein bisschen]. ich schreibe vielleicht. ich schreibe? schreibe ich?
- was ist das perfekte archiv? und wie erinnern wir das, was nicht archivierbar ist? wohin mit erfahrungswissen, körperwissen, erinnerung? wohin damit, wenn worte fehlen?
- Judith Schalansky schreibt, «dass der unterschied zwischen an- und abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die erinnerung gibt.» ich lese den satz immer und immer wieder, ohne ihn zu verstehen.
- wir brauchen ein komplexeres verständnis von sexualisierter gewalt, fordert Linda Martin Alcoff. eines, das die geschichte dieses phänomens erinnert. daran, dass vergewaltigung zuallererst ein vergehen gegen das eigentumsrecht des Mannes war. wir brauchen ein verständnis, das über konsens hinausgeht. denn konsens verlangt, dass ich immer genau weiss, was ich will und das [laut] formulieren kann. was, wenn ich es [noch] nicht weiss? nicht genau weiss? keine worte finde? «ich denk du weisst schon was ich will», besangen tic tac toe mein sexuelles erwachen. «du bisch die schönst minderjährig vo dr ganze stadt», rappten sektion kuchikäschtli.
- ich will eine tradition, auf die ich zurückblicken kann. und zwar keine «so kurze und einseitige, dass sie kaum hilfreich ist», wie Virginia Woolf schreibt. ich will meinen eigenen namen. ich will die geschichte der frauen in meiner familie zurückverfolgen können, ich will nicht das ende einer linie von vätern sein.
- «das vergangene, einmal gewesene ist nicht nur für immer in unsere historie eingeschrieben», sagt Pierre Bourdieu, sondern ebenso «in das gesellschaftliche sein, in die dinge und auch die körper». wenn ich sage, dass mein körper sich erinnert, was meine ich dann? ich bin doch mein körper. zuallererst.
- mein handy erinnert sich für mich: an den familienbestand unserer Chrisibäume in nenzlingen: «baselbieter hochstamm», steht in der notiz vom 16. april, «3 alte, 3 junge, davon eine herzkirsche. Ende juni erntezeit.»
- was bleibt, wenn etwas verschwindet? habe ich mich gefragt und meine masterarbeit geschrieben, während mein vater vergass und J’s vater starb. meine arbeit bleibt, die väter sind verschwunden oder im begriff darin. «für meine grossmütter Lea & Dora», lautet meine widmung. wenn ich schreibe, dann nur aus liebe.
- ist es die hoffnung, «eine vorstellung vom möglichen, von veränderung, von widerstand zu gewinnen», wie Frigga Haug es formuliert, die mich von der erinnerung besessen macht? oder ist es bloss die [meine] angst, zu verschwinden? wie es mein vater tut und sein vater tat?
- mein bruder und ich nennen meinen vater «daddy». nicht etwa, weil wir englischsprachig wären, sondern weil wir als kinder einen synchronisierten film gesehen haben und danach dachten, «daddy» stünde für «teddy». den bären. mir fällt auf, dass mein bruder meinen vater seit neustem nicht mehr «daddy», sondern wolfgang nennt. «warum?», frage ich ihn. «er ist nicht länger mein vater».
- archive sind auch orte des mangels. alles, was wir erinnern, ist eine auswahl. die entscheidung, «was ins archiv aufgenommen und was ausgelassen wird, ist ein politischer akt», schreibt Carmen Maria Machado. was ist der erinnerung würdig?
- ich bin jetzt der rechtliche beistand meines vaters, verkündet die kinder- und erwachsenenschutzbehörde. worin stehe ich ihm bei? Worin sollte ich ihm beistehen? Mein bruder ist viel beistandhafter als ich. «was ist das denn?», fragt mein vater entsetzt, als ich ihm blumen bringe.
- meine innere lippe [oder lappe?] ist unterdessen verheilt. die scham ist noch da. «keine scham», steht auf dem demoschild aus den 70ern, «nur haare».
- wenn ich etwas gelernt habe, erinnere ich mich selbst, dann ist es, mir zu vertrauen. meiner erinnerung, meinem schreiben, meinem bauch. um dann wieder weiter zu [ver]zweifeln. verinnern oder vergessen – zwei dinge bleiben: widersprüche und worte [wie ziegelsteine]. daraus bau ich mir mein archiv.
- heute vor 34 jahren haben meine eltern in berlin geheiratet. mein vater erinnert sich nicht. nicht daran, dass er auf dem standesamt in charlottenburg eine schwarze leinenhose trug, die er selbst genäht hatte. auch nicht an das feuerwerk danach auf dem teufelsberg. «gegen die bösen geister», sagt meine mutter, «es hat eine zeit lang geholfen». sie erinnert sich für mich. ich lege das bild in meinen imaginären silberkoffer. dabei denke ich an Sara Ahmed, die [feministische] wissensbestände als «zerbrechliches archiv» beschreibt, als «ein archiv, dessen zerbrechlichkeit uns eine verantwortung überträgt: uns darum zu kümmern.» gut, sage ich. genau das werde ich tun. ich kümmere mich darum, indem [ich schreibe].
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