Lea Dora Illmer

Finger Food Fiesta

Text anlässlich des Anlasses «WTF is Finger Food?» mit dem Kollektiv eifach gstriggt im safe the yarn Basel, 25.10.2024

What the fuck is finger food?

Eine Box voll Chicken Wrings mit einer, die ich vielleicht lieben könnte spät nachts an der BuchBasel.

Fisch frisch von der Gräte auf dem Landhof von der geheimen Karte im Bo. Die Gräten an der Hose abgestreift, eine hängt mir noch im Mundwinkel.

Äpfel, Topaz natürlich, ich esse sie auf dem Fahrrad, die Kerne spucke ich auf die Strasse, der Apfelsaft läuft mir die Hand hinunter, mein Lenkrad ist klebrig. 

Der kleine Pancake im Avant-Gouz mit Zimteis, immer dann, wenn ich mir leidtue.

Frittierte Fischlein, Sardellen oder Sardinen, mir soll beides recht sein. Im Falle von Sardinen schlucke ich die Gräten mit runter.

Riebli mit Aromat. Dicke Scheiben, weichgekocht.

Eine Scheibe Brot, mit nichts als Butter bestrichen.

Alles, was einen Knochen drin oder dran hat.

Und Würstchen, immer, überall.

«Fingerfood, auch ‘Häppchen’ genannt, bezeichnet Speisen, die mit den Fingern statt mit Besteck gegessen werden», schreibt das Deutsche Wikipedia.

Fingerfood, das sind die «Gesamtheit der Speisen, die so zubereitet sind, dass sie [auf Partys oder Empfängen] ohne Besteck [mit den Fingern] zum Mund geführt werden können», steht im Duden, erstmals 2004.

In der Schweiz gibt es ein Reglement für Fingerfood. Natürlich gibt es das. Das Reglement des Bocuse d’Or – ein berühmter Kochwettbewerb, der seit den 1980er Jahren in Lyon ausgetragen wird. Dort steht, dass Fingerfood «in maximal 2 Bissen stehend mit einer Hand gegessen werden» können muss. In diese Kategorie fallen demnach «Antipasti, Appetithäppchen, Canapés, Meze, Sandwichs, Snacks, Tapas, Tortillas sowie Spiesse und Sushi».

Die englische Wikipedia-Seite schreibt: «Finger food is the name for a number of foods that are usually eaten with the hands, as opposed to using utensils, like forks, knives or chopsticks. In some cultures, food is almost always eaten with the hands; for example, Ethiopian cuisine is eaten by rolling various dishes up in injera bread.»

Was Wikipedia nicht schreibt: Finger ablecken ist fast überall verpönt. Aber von Finger Food bekommt man Food Fingers. «Don’t foodfinger me», kannst du auf Englisch sagen, wenn dich jemand mit fettigen Händen berührt. 

Im Urban Dictionary bezeichnet Finger Food den slang term für «when someone sticks their finger or fingers into a vagina and then puts said appendages into their mouth. A variation of this is the chocolate finger food, where the vagina is swapped out for an anus.»

Eine Finger Food Fiesta bezeichnet weiter «a gathering of lesbians». Ein genialer Name für eine queere Partyreihe.

Eine Bedeutung von Finger Food begegnet mir im Pflegeheim, wo ich meinen Vater besuche. Auf einer Tabelle im Speisesaal wird angekreuzt, welche Patient*innen in der der Lage sind, was zu essen. Eine Option lautet püriert, eine andere Finger Food. Ich lese in der Broschüre «Essen und Trinken bei Demenz» später nach: «Bei der Pflege von Menschen mit Demenz, Senior*innen und Menschen mit Behinderung wird Fingerfood aus den Bestandteilen des normalen Menüs für jene Patient*innen geformt, die nicht oder nicht mehr mit Messer und Gabel essen können». Das lasse besonders Patient*innen ohne Zeitgefühl mehr Selbständigkeit beim Essen. 

Eine romantischere Erzählung von Finger Food beginnt im Frankreich des späten 18. Jahrhundert – auf Samt-Sofas. Herumliegend wäre es unpraktisch gewesen, ein mehrgängiges Menü zu servieren. Also entstand das Canapé. Eine getoastete Scheibe Brot, damit sie schön hart war als Unterlage, mit einem Topping obendrauf. Das Topping sitzt auf der Brotscheibe wie die Menschen auf dem Sofa.

Finger Food ist das Menü heute Abend. Nicht zu flüssig, nicht zu fettig, nicht zu viele Krümel. Knäckebrot nach Doris, Labneh nach Jonas, Radieschen nach Rahel und Parmesan aus St. Louis – geholt von meiner Mutter. Dazu gibt es Lesungen, also Nahrung für unsere Gedanken und Gefühle. Und wir stricken. Das umfasst all das gleichzeitig: Nahrung für den Kopf, das Herz und die Hände. Stricken ist auch Finger Food – irgendwie.

Eine andere Erzählung von Finger Food heisst «hors d’oeuvres». Das bedeutet so viel wie Nebensache und meint ein «kleines, appetitanregendes Gericht zur Eröffnung einer Mahlzeit» (Wikipedia deutsch). 

Die Autorin und Köchin Rebecca May Johnson sieht «hors d’oeuvres» als widerständiges Mahl – und belegt das am Film «Mermaids» von 1990. Die dortige Mermaid-Mutter, Mrs. Flax, ist nämlich berühmt für ihre Kochkünste – die ausnahmslos auf einem Kochbuch mit dem Titel «Fun Finger Foods» beruhen. Finger Food ist alles, was die Frau kocht. «Anything more», so die Tochter über Mrs. Flax, «is too big a commitment». 

Die Küche ist ein Raum, in dem es schwierig sein kann, anders zu sein. Anders bedeutet in diesem Fall: eine Meerjungfrau. Die Schwachpunkte der Meerjungfrau liegen im Haushalt. Wir erzählen uns viele Geschichten über die Küche und das Kochen. Darüber, wie Dinge gemacht werden und schon immer gemacht wurden. «Stories», so Johnson, «that lie in wait in the folds of curtains, in pots and pans, and in the arrangement of chairs around a table». Die kleinsten Haushaltsgegenstände können uns unter Druck setzen: ein ungedeckter Tisch, eine tickende Uhr, eine offene Besteckschublade. Aber Mrs. Flax lehrt uns, «that you build the kitchen you need to survive, as weird and unnatural as you want it.»

Mrx. Flax weigert sich, ein heteronormatives Bilderbuchleben zu führen. Das zeigt sich in ihrer eigenwilligen Küche. Alles, was sie serviert, ist winzig klein, bunt, in seltsame Formen geschnitten oder zu kleinen Stapeln aufgetürmt. Sie verweigert sich deftigen Familienmahlzeiten. Sie hat keine Lust darauf, sich zu binden – weder an einen Mann noch an ein Hauptgericht. 

Als Rebecca May Johnson den Film «Mermaids» zum ersten Mal sah, hatte sie Angst vor dem Ende. Sie befürchtete die ganze Zeit hinweg, dass Mrx. Flax am Schluss kapitulieren und einem Mann Fleisch braten würde. Aber «Mermaids» endet anders. Nämlich so, wie er beginnt: Mrs. Flax serviert ihren Töchtern Hors d’oeuvres. Dieses Ende ist für Johnson «more than pleasing, it is resistance».

Der Widerstand betrifft nicht nur was, sondern auch die Art und Weise, wie die Familie isst. Die eine Tochter sitzt dazu in der Badewanne, die andere steht, die dritte thront auf einem hohen Hocker. Sie verteilen sich in der Wohnung wie Platten mit Hors d’oeuvres an einem Apéro. Sie nehmen selbstverständlich Raum ein. Im Film ist einmal ein Mann zu Besuch, der sich allein an den Kopf des Esstischs setzt und sehnlichst hofft, dass die Frauen um ihn herum Platz nehmen. Vergeblich. Er wird wütend und erklärt den Frauen den Unterschied zwischen zivilisiertem und unzivilisiertem Essen.

Unzivilisiertes Finger Food ist gefährlich. Und beweglich. Es lässt sich herumtragen. So befreit es die Essenden vom Esstisch. «Finger foods facilitate flight!», stellt Johnson fest. Es besteht nicht auf dem linearen Ablauf einer Mahlzeit, sprengt die Chronologie der Familienzeit – weil kein Mahl mehr vom anderen zu unterscheiden ist. Ob Hauptgericht oder Häppchen, Znüni oder Zvieri, Dessert oder Vorspeise. Der Unterschied wird nichtig, weil du in einem Moment eins oder alle zusammen in der Hand halten kannst. Anders zu essen kann dabei helfen, ein anderes Leben zu führen. Der Teller mit Finger Foods ist anti-hierarchisch, herumtragbar und bereit, verteilt zu werden.

Ihr habe Mrs. Flax eine wichtige Lektion gelernt: Nachdem Johnson eine Art indoktrinierte Pflicht empfunden hatte, den Appetit all ihrer Mitmenschen vorauszusehen und danach zu leben und zu kochen, verweigerte sie sich. «I began to let go, to not cook. I began to refuse the kitchen and its narratives that I had so fully embodied. The practice of refusal made space for other objects, like pencils and laptops, and other activities, like writing and the cultivation of voice».

Nicht alle können sich der Küche verweigern. Wer Kinder hat, muss Essen zubereiten. Darin liegt meine grösste Angst in Bezug auf ein Leben mit Kindern. Dass ich es nicht schaffe, regelmässig zu kochen. Ich schaffe es nicht mal, für mich selbst zu kochen. Oft esse ich «keine richtige Mahlzeit», sondern das, was gerade da ist. Oft ist das, was gerade da ist, sehr einseitig. Sehr viel von sehr wenig. Ich esse dann einen riesigen Salat, mehr als ein paar Äpfel, nur geschmorten Kürbis oder Kartoffeln mit Butter. Oft frage ich mich, was ich überhaupt esse. Ich esse viel unterwegs, im Stehen, im Gehen, auf dem Fahrrad, zwischendurch. Oft mit den Fingern. 

Mich plagt in solchen Momenten ein diffuses Gefühl des Scheiterns. Den Anforderungen eines Erwachsenenlebens nicht gerecht zu werden. Wenn ich von Zeit zu Zeit eine ‚richtige Mahlzeit‘ koche, bin ich unverhältnismässig stolz auf mich. Simone Lappert schreibt in einem ihrer Gedichte: «Erwachsen bist du, wenn schon lange niemand mehr ein brot für dich gestrichen hat.» 

Mich lehren Finger Food und seine unzähligen Geschichten: Ich sollte – wir sollten dringend aufhören zu definieren, was eine ‚richtige Mahlzeit‘ ist und aufhören zu definieren, wie man eine ‚richtige Mahlzeit‘ isst. Alles ist Finger Food und nichts daran ist eine Nebensache. 

Ich streiche mir selbst ein Brot und denke: Vielleicht bin ich gar nicht unfähig in der Küche. Vielleicht bin ich eine Meerjungfrau.

Weitere Quellen:

Rebecca May Johnson: „Against Roast Chicken, an Hors D’Oeuvres Theory of Cooking“ in the anthology „In the Kitchen: Essays on Food and Life“, Daunt Books 2020.

Simone Lappert: „längst fällige verwilderungen – gedichte und gespinste“, Diogenes 2022.


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